Die Europawahl ist abgeschlossen, die Urnen schließen, die Stimmen aber sind noch lange nicht ausgezählt. Definitive Ergebnisse sind erst in ein paar Tagen zu erwarten. Dennoch lässt sich bereits jetzt sagen, dass dieses Votum eine Zäsur bedeutet, eine Weichenstellung, die weit über die bei EU-Wahlen üblichen hinausgeht.
Bereits die Hochrechnungen zeigen völlig neue Trends und Entwicklungen. Unsere Brüsseler Büroleiterin Sabine Seeger-Regling, ehemalige Korrespondentin für Europa und von Table Media als eine der Top-100-Europaexperten ausgezeichnet, gibt ihre erste Einschätzung zum Ausgang der Europawahl ab:
- Der Rechtsruck hat nicht nur gesellschaftspolitische Auswirkungen, sondern auch Folgen für die inner-europäische Wirtschaftspolitik. Beschränkte sich die Drift nach rechts bisher auf einzelne EU-Mitgliedsstaaten, schlägt sich nun auch in der gesamten EU nieder. Selbst radikale Positionen schrecken die Wähler nicht mehr ab. Rechtsextreme Parteien wie die AFD in Deutschland, die FPÖ in Österreich oder der Rassemblement National in Frankreich legen zu. Die AFD ist – mindestens nach den bisherigen Hochrechnungen – zweitstärkste Kraft in Deutschland. Die Partei von Marine Le Pen stärkste Kraft in Frankreich. Das fordert die EU, die von außen bedroht ist wie nie zuvor, nun auch von innen heraus. Erstmals seit ihrer Gründung drohen Rechte und EU-skeptische Parteien so stark zu werden, dass sie den künftigen Kurs der EU machtpolitisch beeinflussen können. Noch ist unklar, wie sich dieses rechte Lager sortiert, aber es wird versuchen, den Grundkonsens der Gemeinschaft zu unterminieren. Gemeinsame Lösungen und pragmatische Kompromisse werden schwieriger werden, demgegenüber werden nationale Interessen in den Vordergrund rücken. Das wird die Skepsis gegenüber Globalisierung und wirtschaftlicher Vernetzung vergrößern – und damit auch die Expansions-Strategien deutscher Unternehmen ins Ausland nicht leichter machen. Zugleich werden die Europawahlen Folgen für die nationalen Politikansätze in den jeweiligen EU-Mitgliedsländern haben: Frankreichs Staatspräsident Macron hat bereits Neuwahlen wegen des Erdrutsch-Siegs der LePen-Partei angekündigt. Eine stabile Politik sieht anders aus.
- Trotz des Vormarsches der Rechten gibt es eine klare proeuropäische und demokratische Mehrheit für die nächste Legislaturperiode. Zwar werden die Sozialdemokraten mit voraussichtlich nur noch 134 Sitzen an Einfluss verlieren, gemeinsam mit den in der Europäischen Volkspartei versammelten Konservativen und Christdemokraten bilden sie aber ein starkes Zentrum. Denn die EVP dürfte auch im neuen Parlament wieder zur stärksten Kraft werden. Beide werden die EU auf Kurs halten, d.h. gemeinsame, also integrationsfreundliche Lösungen finden und die Fliehkräfte ausbremsen müssen.
- Die großen Verlierer dieser Europawahl sind die Grünen, allen voran die deutschen Grünen, die vor fünf Jahren mit 20,5 Prozent der Stimmen ihren größten Sieg einfahren konnten. Nun liegen sie bei 12 Prozent. Auch in Frankreich büßten sie acht Prozent ein. Viele Bürgerinnen und Bürger empfanden grüne Europapolitik ganz offensichtlich nicht nur in Deutschland, sondern europaweit als Verbots- und Bevormundungspolitik, viele Unternehmer und Manager stöhnten unter ausufernden Berichtspflichten, welche die maßgeblich von den Grünen vorangetriebenen Klima- und Umweltgesetze mit sich brachten.
- Europas Liberale bleiben weit hinter den Erwartungen zurück. Zwar konnte die FDP ihr Ergebnis von 2019 behaupten, damals holten sie 5 Prozent. Aber die größte Kraft der liberalen Fraktion im Europaparlament, Emanuel Macron´s Renaissance-Partei konnte gerade mal 15 Prozent der Stimmen einfahren und damit knapp zehn Prozent weniger als bei der vergangenen Wahl. Die Liberalen werden nach derzeitigen Hochrechnungen nur noch 87 der 720 Sitze in der Straßburger Volksvertretung besetzen. Sie werden sich schwer tun, liberale Positionen wie eine technologieoffene Industriepolitik sowie Klima- und Umweltpolitik oder auch eine innovationsgetriebene Digitalpolitik durchzusetzen. Die FDP muss für sich prüfen, ob es noch Sinn macht in der Ampel-Koalition zu bleiben. Sie hat sich ein wenig vom Negativ-Trend bei SPD und Grünen absetzen können – aber nur ein wenig.
- Die zweite Amtszeit, die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen anstrebt, ist trotz des Sieges ihrer Partei, der Europäischen Volkspartei, keine ausgemachte Sache. Die EVP dürfte es zwar auf 176 Sitze schaffen, aber die Deutsche, die von den Abgeordneten des Europäischen Parlaments gewählt werden muss, braucht 361 der 720 Stimmen. Schielt sie nach rechts, lässt sich von der konservativ-nationalen EKR wählen, verprellt sie Sozialdemokraten wie Grüne. Baut sie auf Mitte-links, wird sie die Politik, die sie im Wahlkampf versprochen hat – stärkere Wirtschaftsorientierung und weniger Bürokratie – nicht durchsetzen können.